Medizinethik und Empirie – Standortbestimmungen eines spannungsreichen Verhältnisses
Silke Schicktanz
Jan Schildmann
die Empirische Ethik hat in der internationalen Fachdiskussion eine enorme Popularitt erreicht. dabei fllt mindestens zweierlei auf: Zum einen gibt es eine intensive Fachdebatte um theoretische, meta-ethische und methodologische Fragen, ob und wenn, auf welche Weise empirische Ergebnisse in medizinethische berlegungen zu integrieren sind. Zum anderen ist die anzahl von medizinethischen Studien, die explizit Umfragen oder interviews mit rzten, Richtern, Pflegepersonal oder Patienten beinhalten, in den letzten Jahren enorm gestiegen. die entsprechenden arbeiten werden in den zwischenzeitlich von zahlrei - chen medizinethischen Fachzeitschriften unterhaltenen rubriken zu empirical ethics oder clinical ethics publiziert. die Verbindung von normativen, prskriptiven und empirischen, deskriptiven dimensionen spiegelt sich u.a. darin wieder, dass angewandte Ethik zuneh - mend als ein interdisziplinres Unternehmen verstanden wird. an diesem mssen nicht nur die Philosophie, theologie und rechtswissenschaft sowie die Medizin, die Natur- und ingenieurswissenschaften mitwirken, sondern auch die Sozial- und Kulturwissenschaften. d ieses aktualittsphnomen liefert aus unserer Sicht gute Grnde, sich mit dem Verhlt - nis von Medizinethik und Empirie nher auseinanderzusetzen. die Verbindung normativer und empirischer aspekte in der Medizinethik bietet enorme Chancen, aber auch risiken, welche abzuschtzen und abzuwgen sind. in der aktuellen Entwicklung der Medizinethik spiegeln sich darin auch inhaltliche und strukturelle, institutionelle Vernderungen der ethischen Forschung in der Medizin wider. aus inhaltlicher Sicht soll eine grere Praxisnhe
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In der internationalen Fachliteratur sind hierfr verschiedene Begriffe zu finden wie: empirical ethics,
empirical medical ethics, integrated empirical ethics oder empirically informed ethics. Wir verwenden hier
der Einfachheit halber Empirische Ethik als Sammelbegriff.
erzielt werden. diese Praxisnhe wird sowohl bei der Problemerfassung, bei der Bewertung
und als auch bei der Problemlsung eingefordert. Strukturell kann die strkere empirische
a usrichtung der Medizinethik auch mit den Bedrfnissen der medizinischen Fakultten in
Verbindung gebracht werden, welche die Medizinethik am hufigsten beherbergen. Aber
auch das verstrkte interesse der Sozial- und Kulturwissenschaften an bioethischen Fragen
drfte kein unwesentlicher Faktor sein.
a llerdings sollte das Verhltnis zwischen den normativen anteilen der Medizinethik
einerseits und deskriptiver empirischer Forschung anderseits nicht als harmlos eingestuft
werden. Es wirft zahlreiche ungeklrte Fragen auf. insbesondere interessiert die
methodologische Spannung zwischen den ethischen und empirischen dimensionen und was sie fr die
zuknftige Medizinethikforschung bedeuten knnte. Bislang fehlen gerade fr die deutsche
Fachdiskussion verschiedenartige bersichten, die die methodischen Vor- und Nachteile
der verschiedenen anstze in der Empirischen Ethik reflektieren. Auch praxisorientierte
Handreichungen, die restriktionen bestimmter Methoden hinsichtlich des Forschungsde
signs aufzeigen, sind eher noch die ausnahme. Hierzu gehrt eine an die sozialwissen
schaftliche Diskussion heranreichende Methodenreflexion, welche Standards der
empirischen Forschung einzuhalten und bei der interpretation der Ergebnisse zu bercksichtigen
sind. Schlielich drfen die theoretischen Grundlagen nicht als hinreichend geklrt gelten.
Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass das, was unter Medizinethik beziehungsweise
Empirie verstanden wird, immer noch stark variiert.
So wird Medizinethik im Sinne angewandter Ethik unter anderem a) als
Reflexionstheorie, die die soziale Praxis reflektiert, b) als normative Reflexionstheorie, die den Anspruch
hat, praktisch zu werden (Handlungsorientierung, Politikberatung), c) als alltagsethik, d.h.
als moralisches Nachdenken in konkreten Entscheidungen, wie in klinischen Situationen,
oder d) als Prozess der Urteilsbildung, bei dem immer schon normative und
ethisch-empirische a nteile verbunden werden mssen, verstanden.
Unterschiede mit Blick auf das Begriffsverstndnis sind auch fr die Empirie zu
konstatieren. So wird unter Empirie a) das Sein bzw. wissenschaftliche Fakten, (im Gegensatz
zum Sollen), das sich deskriptiv beschreiben lsst, b) die alltagspraxis sowie c) die empiri
sche Untersuchung moralischer Einstellungen und Meinungen verstanden.
d as vorliegende themenheft Medizinethik und Empirie hat sich nun die aufgabe
gemacht, die internationale diskussion ber Empirische Ethik fr die deutsche debatte
aufzuarbeiten. in diesem Zusammenhang soll kritisch geprft werden, was daran vielleicht ein
alter Hut ist, das Neue soll fruchtbringend fr die Medizinethik herausgestellt werden.
in dem ersten einfhrenden Beitrag geht der hollndische Philosoph Bert Musschenga
genauer der Frage Was ist empirische Ethik? nach. Er stellt dabei mit Blick auf die
internationale Debatte die spezifischen Kennzeichen (...truncated)