Verlernen: Vom alltagsweltlichen zum erziehungswissenschaftlichen Verständnis

Zeitschrift für Weiterbildungsforschung, Mar 2015

Verlernen ist als Phänomen im alltagsweltlichen Sprachgebrauch etabliert, aber erziehungswissenschaftlich bislang kaum beachtet worden. Nur wenige Autoren verwenden den Begriff des Verlernens überhaupt, noch seltener ist eine dezidierte und differenzierte Begriffsbestimmung zu finden. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst Dilemmata skizziert, die in Erscheinung treten, wenn der alltagsweltliche Begriff des Verlernens als Analysekategorie in empirischen Arbeiten verwendet wird. Die kritische Re-Analyse einer dieser Arbeiten aber zeigt zugleich ein Arbeitsprogramm für die Ergründung von Phänomenen des Verlernens auf. Einer dieser Aufgaben – die Entwicklung einer Heuristik des Verlernens aufgrund einer Literaturanalyse – nimmt sich der vorliegende Beitrag in einem ersten Schritt an.

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Verlernen: Vom alltagsweltlichen zum erziehungswissenschaftlichen Verständnis

ZfW Verlernen: Vom alltagsweltlichen zum erziehungswissenschaftlichen Verständnis Astrid Seltrecht 0 0 Jun. Prof. Dr. A. Seltrecht () Institut für Berufsund Betriebspädagogik, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg , Zschokkestraße 32, 39104 Magdeburg , Deutschland Unlearning has been established as a phenomenon in common parlance, but has been neglected by educational science so far. Very few authors use the term “unlearning”, even rarer is a clear, precise and sophisticated definition. This article starts with the dilemmata appearing when using the term as a category of analysis in empirical studies. The critical re-analysis of one of these studies yet evokes a work programme designed to explore the phenomena of unlearning. As a first step, this article deals with one of these tasks: developing heuristics of unlearning on the basis of a literature review. Experience; Learning; Unlearning; Non-learning - O r i g i n a l b e i t r a g 1 Einleitung: Alltagsweltliche Verwendung des Begriffs „Verlernen“ in der Erziehungswissenschaft Lernen wird in vielfältiger Weise diskutiert, z. B. hinsichtlich der Perspektive und der professionellen Bezugnahme (bildungspolitisch, erziehungswissenschaftlich, pädagogisch oder institutionell/organisatorisch) oder hinsichtlich der verschiedenen Lernkontexte, in denen – gleichsam im Verbund über die gesamte Lebensspanne hinweg – das lebenslange Lernen stattfindet (z. B. formal, non-formal, informell), oder hinsichtlich der verschiedenen Lehrformen, die das Lernen einer Zielgruppe ermöglichen sollen (z. B. forschendes Lernen, problemorientiertes Lernen, situiertes Lernen, fallbasiertes Lernen). Die Ausrichtung von Lernprozessen, seien sie nun pädagogisch intendiert oder nicht pädagogisch intendiert, ist i. d. R auf eine Zunahme (z. B. von Wissen oder Können) oder eine Entwicklung (z. B. der Identität oder von Kompetenzen) gerichtet. Neben dieser eher positiven Thematisierung eines (Neu-)Lernens, die wir in der Bildungspolitik, aber auch in der Erziehungswissenschaft und der Pädagogik vorfinden, existiert im alltagsweltlichen Verständnis auch das Wissen um Formen des Verlernens, Umlernens und Nichtlernens. Gerade Verlernen oder Vergessen ist uns allen durch (berufs-)schulische und/oder universitäre Erfahrungen bekannt. Wer kann heute beispielsweise noch erklären, was unter der Strukturisomerie bei Alkanen zu verstehen ist (nämlich dass es Moleküle gibt, die die gleiche Summenformel, aber unterschiedliche Strukturformeln haben – ein Thema aus dem Chemieunterricht der 10. Klasse), oder – aus dem Biologieunterricht derselben Jahrgangsstufe – die Bausteine der menschlichen DNA benennen (Phosphorsäure, Desoxyribose, Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin)? Diese „dunkle“ Seite von Lehr-Lern-Prozessen wird zumindest bei der Thematisierung des lebenslangen Lernens ausgeblendet. Und wenn der Begriff des Verlernens in erziehungswissenschaftlichen Arbeiten dennoch auftaucht, dann meist ohne dezidierte und differenzierte Bestimmung (Kade und Seitter 2007b, S. 316 f.; Maier-Gutheil 2009, S. 17, 34, 115; Dinkelaker 2011, S. 133; Richter und Friebertshäuser 2013, S. 323) . Stattdessen scheint diese Begriffsverwendung auf eine geteilte alltagsweltliche Vorstellung von Verlernen zu rekurrieren. Dieses Verständnis deckt sich mit der im Duden skizzierten Wortbedeutung: „(etwas Erlerntes, Gewusstes, Gekonntes) allmählich immer weniger, schließlich gar nicht mehr beherrschen“ (www.duden.de). Deutlich wird bei dieser Auslegung, was allmählich verlernt wird, nämlich etwas zuvor „Gewusstes“, im Sinne von Wissen, bzw. „Gekonntes“, im Sinne von Fertigkeiten, das bzw. die man sich in vorangegangenen Lernprozessen angeeignet hat. Offen bleibt jedoch, wie sich dieses Verlorengehen vollzieht. Wir haben es hier alltagsweltlich mit der Unterscheidung von Form („Wie wird verlernt?“) und Inhalt („Was wird verlernt?“) bzw. mit Verlernen als Lernprozess vs. Verlernen als Lernergebnis zu tun. Ebenfalls an das alltagsweltliche Verständnis vom Verlernen anknüpfend, wurde in einem biografieanalytisch angelegten Forschungsprojekt (Nittel und Seltrecht 2013) Verlernen als eines von insgesamt vier Lernmodi (Neulernen, Umlernen, Verlernen, Nichtlernen) konzipiert. Hier wurde versucht, die der Alltagswelt entlehnten Begriffe einerseits für die grundlagentheoretische Erforschung eines lebenslangen Lernens und andererseits methodisch für die Analyse empirischen Datenmaterials zu nutzen, ohne jedoch eine theorieorientierte und eine empirisch fundierte Re-Interpretation des Begriffs „Verlernen“ vorzunehmen (z. B. Nittel 2010, S. 95, 99, 2011, S. 84 f., 2013, S. 111, 145) . Das Anlegen dieser Begriffe als Analysekategorien – wie im Projektkontext unternommen und für weitere Analysen vorgeschlagen (z. B. Siewert 2014) – offenbart allerdings Schwächen. 2 Dilemmata der Verwendung des alltagsweltlichen Begriffs „Verlernen“ in der erziehungswissenschaftlichen Forschung Diese noch zu bearbeitenden Herausforderungen solle (...truncated)


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Jun. Prof. Dr. Astrid Seltrecht. Verlernen: Vom alltagsweltlichen zum erziehungswissenschaftlichen Verständnis, Zeitschrift für Weiterbildungsforschung, 2015, pp. 99-111, Volume 38, Issue 1, DOI: 10.1007/s40955-015-0017-x