Verlernen: Vom alltagsweltlichen zum erziehungswissenschaftlichen Verständnis
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Verlernen: Vom alltagsweltlichen zum erziehungswissenschaftlichen Verständnis
Astrid Seltrecht 0
0 Jun. Prof. Dr. A. Seltrecht () Institut für Berufsund Betriebspädagogik, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg , Zschokkestraße 32, 39104 Magdeburg , Deutschland
Unlearning has been established as a phenomenon in common parlance, but has been neglected by educational science so far. Very few authors use the term “unlearning”, even rarer is a clear, precise and sophisticated definition. This article starts with the dilemmata appearing when using the term as a category of analysis in empirical studies. The critical re-analysis of one of these studies yet evokes a work programme designed to explore the phenomena of unlearning. As a first step, this article deals with one of these tasks: developing heuristics of unlearning on the basis of a literature review.
Experience; Learning; Unlearning; Non-learning
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O r i g i n a l b e i t r a g
1 Einleitung: Alltagsweltliche Verwendung des Begriffs „Verlernen“ in der
Erziehungswissenschaft
Lernen wird in vielfältiger Weise diskutiert, z. B. hinsichtlich der Perspektive und
der professionellen Bezugnahme (bildungspolitisch, erziehungswissenschaftlich,
pädagogisch oder institutionell/organisatorisch) oder hinsichtlich der verschiedenen
Lernkontexte, in denen – gleichsam im Verbund über die gesamte Lebensspanne
hinweg – das lebenslange Lernen stattfindet (z. B. formal, non-formal, informell), oder
hinsichtlich der verschiedenen Lehrformen, die das Lernen einer Zielgruppe
ermöglichen sollen (z. B. forschendes Lernen, problemorientiertes Lernen, situiertes Lernen,
fallbasiertes Lernen). Die Ausrichtung von Lernprozessen, seien sie nun pädagogisch
intendiert oder nicht pädagogisch intendiert, ist i. d. R auf eine Zunahme (z. B. von
Wissen oder Können) oder eine Entwicklung (z. B. der Identität oder von
Kompetenzen) gerichtet. Neben dieser eher positiven Thematisierung eines (Neu-)Lernens, die
wir in der Bildungspolitik, aber auch in der Erziehungswissenschaft und der
Pädagogik vorfinden, existiert im alltagsweltlichen Verständnis auch das Wissen um Formen
des Verlernens, Umlernens und Nichtlernens. Gerade Verlernen oder Vergessen ist
uns allen durch (berufs-)schulische und/oder universitäre Erfahrungen bekannt. Wer
kann heute beispielsweise noch erklären, was unter der Strukturisomerie bei
Alkanen zu verstehen ist (nämlich dass es Moleküle gibt, die die gleiche Summenformel,
aber unterschiedliche Strukturformeln haben – ein Thema aus dem
Chemieunterricht der 10. Klasse), oder – aus dem Biologieunterricht derselben Jahrgangsstufe
– die Bausteine der menschlichen DNA benennen (Phosphorsäure, Desoxyribose,
Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin)? Diese „dunkle“ Seite von Lehr-Lern-Prozessen
wird zumindest bei der Thematisierung des lebenslangen Lernens ausgeblendet. Und
wenn der Begriff des Verlernens in erziehungswissenschaftlichen Arbeiten dennoch
auftaucht, dann meist ohne dezidierte und differenzierte Bestimmung
(Kade und
Seitter 2007b, S. 316 f.; Maier-Gutheil 2009, S. 17, 34, 115; Dinkelaker 2011, S. 133;
Richter und Friebertshäuser 2013, S. 323)
. Stattdessen scheint diese
Begriffsverwendung auf eine geteilte alltagsweltliche Vorstellung von Verlernen zu rekurrieren.
Dieses Verständnis deckt sich mit der im Duden skizzierten Wortbedeutung: „(etwas
Erlerntes, Gewusstes, Gekonntes) allmählich immer weniger, schließlich gar nicht
mehr beherrschen“ (www.duden.de). Deutlich wird bei dieser Auslegung, was
allmählich verlernt wird, nämlich etwas zuvor „Gewusstes“, im Sinne von Wissen, bzw.
„Gekonntes“, im Sinne von Fertigkeiten, das bzw. die man sich in vorangegangenen
Lernprozessen angeeignet hat. Offen bleibt jedoch, wie sich dieses Verlorengehen
vollzieht. Wir haben es hier alltagsweltlich mit der Unterscheidung von Form („Wie
wird verlernt?“) und Inhalt („Was wird verlernt?“) bzw. mit Verlernen als
Lernprozess vs. Verlernen als Lernergebnis zu tun.
Ebenfalls an das alltagsweltliche Verständnis vom Verlernen anknüpfend, wurde
in einem biografieanalytisch angelegten Forschungsprojekt
(Nittel und Seltrecht
2013)
Verlernen als eines von insgesamt vier Lernmodi (Neulernen, Umlernen,
Verlernen, Nichtlernen) konzipiert. Hier wurde versucht, die der Alltagswelt entlehnten
Begriffe einerseits für die grundlagentheoretische Erforschung eines lebenslangen
Lernens und andererseits methodisch für die Analyse empirischen Datenmaterials
zu nutzen, ohne jedoch eine theorieorientierte und eine empirisch fundierte
Re-Interpretation des Begriffs „Verlernen“ vorzunehmen
(z. B. Nittel 2010, S. 95, 99, 2011,
S. 84 f., 2013, S. 111, 145)
. Das Anlegen dieser Begriffe als Analysekategorien – wie
im Projektkontext unternommen und für weitere Analysen vorgeschlagen
(z. B.
Siewert 2014)
– offenbart allerdings Schwächen.
2 Dilemmata der Verwendung des alltagsweltlichen Begriffs „Verlernen“ in
der erziehungswissenschaftlichen Forschung
Diese noch zu bearbeitenden Herausforderungen solle (...truncated)