Die Intensivstation zu überleben ist vorrangiges Ziel, doch allein nicht genügend
Die Intensivstation zu überleben ist vorrangiges Ziel, doch allein nicht genügend
H.-P. Kapfhammer 1
S. Schwab 0
0 Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen , Erlangen , Deutschland
1 Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Medizinische Universität Graz , Graz, Österreich
-
Die Erfolge der modernen
Intensivmedizin sind unbestritten. Selbst vital
schwer gefährdete Patienten, die noch
vor Jahrzehnten schicksalhaft
verstorben wären, besitzen eine realistische
Überlebenschance.
Intensivmedizinisches Handeln unterliegt hierbei
denselben ethischen Prinzipien wie auch in der
übrigen Medizin, nämlich Gutes zu tun,
nicht zu schaden, die Autonomie eines
Patienten zu wahren und gerecht zu
handeln. Unter intensivmedizinischen
Bedingungen erfahren diese Maßstäbe
jedoch sehr häufig eine konflikthafte
Zuspitzung. Das Leben eines Menschen
zählen wir zu den höchsten Gütern, es
zu erhalten, nennen wir gutes Handeln.
Intensivmedizinische Therapie bedeutet
für den einzelnen Patienten wie auch für
seine Angehörigen aber oft höchste
psychophysische Belastungen. Diese
können mit einschneidenden Bedrohungen
der leiblichen Integrität und personalen
Identität einhergehen. Nicht in jedem Fall
ist die erhoffte Wiederherstellung von
Gesundheit möglich. Überlebensraten
gelten weiterhin als basale Kennziffern
der intensivmedizinischen
Versorgungsqualität. Doch auch nach überstandener
Intensivstation sind erhöhte
Morbiditäts- und Mortalitätsraten, bleibende
körperliche Funktionsdefizite,
gravierende Einbußen in der
gesundheitsbezogenen Lebensqualität, bedeutsame
affektive und kognitive Konsequenzen
für eine multimodale Outcomeforschung
kritisch zu reflektieren. Die subjektive
Auseinandersetzung mit und die
persönliche Werthaltung eines überlebenden
Patienten zu diesen körperlichen,
kognitiven und emotionalen Langzeitfolgen,
die vereinheitlichend als
„Post-intensive-care-Syndrom“ (PICS) umschrieben
werden, fällt in Abhängigkeit von der
Persönlichkeit, der Lebensgeschichte,
des familiären und sozialen Umfelds
sehr unterschiedlich aus. Sie kann mit
einem hohen Leidensgrad auf Dauer
einhergehen.
Das vorliegende Schwerpunktheft
von Der Nervenarzt nimmt einige
dieser Aspekte in einer interdisziplinären
Perspektive auf. Es möchte ein spezielles
Augenmerk einerseits auf
neurologische und psychische Langzeitfolgen und
andererseits auf psychologische und
psychosoziale Ansätze zur Unterstützung
für die Patienten und ihre Angehörigen
sowie für die Behandler selbst während
eines Aufenthalts auf Intensivstation
richten.
» CIP und CIM tragen
unabhängig zur
1-JahresMortalität bei
Die Neurologie kennt in ihrer
eigenständigen Spezialisierung eine Fülle von
intensivmedizinischen
Aufgabenstellungen wie z. B. auf einer Stroke-Unit. In
einer allgemeinen intensivmedizinischen
Perspektive wird sie vor allem durch zwei
eng miteinander verbundene
Krankheitsbilder herausgefordert, die
Criticalillness-Polyneuropathie (CIP) und die
Critical-illness-Myopathie (CIM), die beide
auch unter der Bezeichnung „intensive
care unit acquired weakness“ (ICUAW)
zusammengefasst werden. Rainer
Kollmar gibt einen präzisen Überblick über
den aktuellen Forschungsstand zu diesen
beiden neuromuskulären Störungen. Die
Häufigkeiten sind schon während der
Akutbehandlung hoch. CIP und CIM
sind mit längeren stationären
Verweildauern insgesamt sowie speziell mit der
Dauer einer mechanischen Respiration
assoziiert. Die neuromuskulären
Defizite erholen sich typischerweise im Laufe
von einigen Wochen bis Monaten, bei
einer Subgruppe können sie jedoch über
Jahre persistieren. CIP und CIM tragen
offenkundig unabhängig zur
1-JahresMortalität bei. Bedeutsame Einbußen
in den Alltagsaktivitäten sowie in der
Lebensqualität sind als Korrelate
festzuhalten. Die Ursachenklärung von CIP
und CIM ist nach wie vor
unvollständig. Sepsis, systemische Inflammation
(SIRS) und multiples Organversagen
sind wichtige Risikofaktoren.
Vasopressoren, Aminoglykosiden,
Kortikosteroiden und neuromuskulären Blockern
kommt als häufig in der Intensivmedizin
eingesetzten Substanzen eine mögliche
pathogenetische Relevanz zu.
Dysregulationen im Glukosemetabolismus werden
zentral beachtet. In prophylaktischer
Hinsicht stehen eine gezielte Korrektur
hyperglykämischer Spitzen mittels
Insulingaben, frühe Mobilisierungsversuche
und physiotherapeutische Übungen bei
möglichst reduziertem
Sedierungsniveau im Vordergrund. Eine Restriktion
der Proteinzufuhr während der
ersten Woche auf Intensivstation zielt auf
eine Unterstützung notwendiger
katabolischer Pfade, um die Qualität und
Funktionalität der Muskelgruppen nach
Möglichkeit zu erhalten.
» Kognitive Dysfunktionen
sind noch nach einem Jahr
nachzuweisen
Akute kognitive Dysfunktionen treten bei
intensivpflichtigen Patienten vorrangig
als Delir auf. Die Inzidenzraten betragen
vor allem bei Patienten mit
mechanischer Beatmung über 80 %. Ursächlich
ist neben den speziellen Konstellationen
der Grunderkrankung vor allem den
pathophysiologische (...truncated)