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Der brave Mann denkt an sich selbst - zuerst?
Der brave Mann denkt an sich selbst - zuerst? WAS MMW-LESER ERLEBEN
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– Es war in einer sehr gut besuchten
Nachmittagssprechstunde an einem
trüben Novemberdienstag. Wie so oft hatten
unvorhergesehene Störungen die
Wartezeiten schon recht deutlich verlängert.
Ein 36-jähriger, hagerer Patient betrat
mein Sprechzimmer. Seine traumatische
Biografie war mir seit Jahren bekannt: Als
Jugendlicher hatte er bei einem
unverschuldeten Fahrradunfall einen Abriss des linken
Plexus brachialis im Halsmarkbereich
erlitten. Durch die Lähmung unbeweglich
geworden verkümmerte der linke Arm
zunehmend und baumelte seitdem wie leblos an
dem durch das muskuläre Ungleichgewicht
verzogenen Körper (Abb. 1). Die angestrebte
handwerkliche Ausbildung musste der
Patient aufgeben. Zu den beruflichen Problemen
gesellten sich immer unerträglicher
werdende Nervenschmerzen, die ihn zu einer
Odyssee durch Anästhesie- und
Schmerzzentren trieben. Zunehmend depressiv, von
Betäubungsmitteln abhängig, beruflich
mehrfach gescheitert und verschuldet ging
zuletzt auch seine Ehe in die Brüche.
In dieser beklagenswerten Situation
überfiel ihn zudem ein quälendes
Ohrgeräusch, das ihn nachts nicht mehr zur
Ruhe kommen ließ. Von Schlafstörungen und
Schmerzen gepeinigt kam er in die
Sprechstunde. Völlig verzweifelt äußerte er, dass
er nicht wisse, wie lange er dies alles noch
aushalten könne und wolle.
Der kassenärztlich geplante, sorgfältig
berechnete Minutentakt geriet nun völlig
aus dem Tritt. Nach einer Dreiviertelstunde
intensiven Gesprächs war die Lage jedoch
wieder unter Kontrolle, ein Therapieplan
entworfen, eine Perspektive für den
Geplagten erkennbar. Mein Feierabend war zwar in
ferne Aussicht gerückt, aber der Patient
schien mir stabilisiert, ich war beruhigt und
zugegebenermaßen mit mir zufrieden.
Zu viel Zeit vertan?
Doch wenig später wurde mein seelisches
Gleichgewicht stark auf die Probe gestellt,
als die nächsten Patienten sichtlich erbost
mit der Dynamik eines Eisbrechers ins
Sprechzimmer vorpreschten. Das früh
beAbb. 1 Vollkommene Atrophie des linken
Armes nach traumatischem
Plexus-brachialis-Ausriss links. Sekundäre
Schiefhaltung durch muskuläre Dysbalance.
Abb. 2 Krallenhandbildung nach
suizidaler Schnittverletzung.
rentete End-Fünfziger-Ehepaar griff mich in
harschem Ton an, weil ich mit dem jungen,
scheinbar gesunden Mann vor ihnen so
„viel Zeit vertan habe“.
Meine freundlichen Begrüßungsworte
blieben mir im Hals stecken, und ein
anderes Bild kam in mir hoch: Sechs Jahre zuvor
hatte ich wegen eben dieses Ehemanns
mitten aus einer vollen
Freitagnachmittagssprechstunde heraus notfallmäßig
ausrücken müssen. In suizidaler Absicht hatte er
damals versucht, sich mit einem
Küchenmesser die Pulsadern zu öffnen. Ich fand
ihn in seiner Wohnung bewusstlos in einer
großen Blutlache vor, die weinende, ratlose
Ehefrau daneben. Nach entsprechenden
Maßnahmen konnte er mit stabilem
Kreislauf in eine Klinik gebracht werden. Meinem
Einsatz hatte er letztlich zu einem nicht
geringen Teil seine Rettung zu verdanken.
Auch diese Aktion war damals nicht in
wenigen Minuten zu bewältigen gewesen,
und andere hatten über eine Stunde
gewartet, bis ich die Sprechstunde fortsetzen
konnte. Nun schien der Patient dies alles
vergessen zu haben, obwohl die bleibende
Schädigung der Hand (Abb. 2) ihn eigentlich
immer daran erinnern könnte. War es
Verdrängung, Gedankenlosigkeit, oder hatten
die Zeitgeister Egomanie und
Rücksichtslosigkeit zugeschlagen? Ich habe das Paar
mit diesem Part ihrer Lebensgeschichte
konfrontiert. Betroffenheit oder Einsicht
konnte ich aber nicht erkennen. Vielleicht
hat der Volksmund recht, wenn er Schillers
Zeilen aus Wilhelm Tell so kolportiert:„Der
brave Mann denkt an sich selbst zuerst!“ (...truncated)