Der brave Mann denkt an sich selbst - zuerst?

MMW - Fortschritte der Medizin, Jul 2010

Dr. med. Fritz Meyer

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Der brave Mann denkt an sich selbst - zuerst?

Der brave Mann denkt an sich selbst - zuerst? WAS MMW-LESER ERLEBEN Senden Sie uns Ihre Geschichte an: . Für jeden veröffentlichten Text erhalten Sie Euro. - – Es war in einer sehr gut besuchten Nachmittagssprechstunde an einem trüben Novemberdienstag. Wie so oft hatten unvorhergesehene Störungen die Wartezeiten schon recht deutlich verlängert. Ein 36-jähriger, hagerer Patient betrat mein Sprechzimmer. Seine traumatische Biografie war mir seit Jahren bekannt: Als Jugendlicher hatte er bei einem unverschuldeten Fahrradunfall einen Abriss des linken Plexus brachialis im Halsmarkbereich erlitten. Durch die Lähmung unbeweglich geworden verkümmerte der linke Arm zunehmend und baumelte seitdem wie leblos an dem durch das muskuläre Ungleichgewicht verzogenen Körper (Abb. 1). Die angestrebte handwerkliche Ausbildung musste der Patient aufgeben. Zu den beruflichen Problemen gesellten sich immer unerträglicher werdende Nervenschmerzen, die ihn zu einer Odyssee durch Anästhesie- und Schmerzzentren trieben. Zunehmend depressiv, von Betäubungsmitteln abhängig, beruflich mehrfach gescheitert und verschuldet ging zuletzt auch seine Ehe in die Brüche. In dieser beklagenswerten Situation überfiel ihn zudem ein quälendes Ohrgeräusch, das ihn nachts nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Von Schlafstörungen und Schmerzen gepeinigt kam er in die Sprechstunde. Völlig verzweifelt äußerte er, dass er nicht wisse, wie lange er dies alles noch aushalten könne und wolle. Der kassenärztlich geplante, sorgfältig berechnete Minutentakt geriet nun völlig aus dem Tritt. Nach einer Dreiviertelstunde intensiven Gesprächs war die Lage jedoch wieder unter Kontrolle, ein Therapieplan entworfen, eine Perspektive für den Geplagten erkennbar. Mein Feierabend war zwar in ferne Aussicht gerückt, aber der Patient schien mir stabilisiert, ich war beruhigt und zugegebenermaßen mit mir zufrieden. Zu viel Zeit vertan? Doch wenig später wurde mein seelisches Gleichgewicht stark auf die Probe gestellt, als die nächsten Patienten sichtlich erbost mit der Dynamik eines Eisbrechers ins Sprechzimmer vorpreschten. Das früh beAbb. 1 Vollkommene Atrophie des linken Armes nach traumatischem Plexus-brachialis-Ausriss links. Sekundäre Schiefhaltung durch muskuläre Dysbalance. Abb. 2 Krallenhandbildung nach suizidaler Schnittverletzung. rentete End-Fünfziger-Ehepaar griff mich in harschem Ton an, weil ich mit dem jungen, scheinbar gesunden Mann vor ihnen so „viel Zeit vertan habe“. Meine freundlichen Begrüßungsworte blieben mir im Hals stecken, und ein anderes Bild kam in mir hoch: Sechs Jahre zuvor hatte ich wegen eben dieses Ehemanns mitten aus einer vollen Freitagnachmittagssprechstunde heraus notfallmäßig ausrücken müssen. In suizidaler Absicht hatte er damals versucht, sich mit einem Küchenmesser die Pulsadern zu öffnen. Ich fand ihn in seiner Wohnung bewusstlos in einer großen Blutlache vor, die weinende, ratlose Ehefrau daneben. Nach entsprechenden Maßnahmen konnte er mit stabilem Kreislauf in eine Klinik gebracht werden. Meinem Einsatz hatte er letztlich zu einem nicht geringen Teil seine Rettung zu verdanken. Auch diese Aktion war damals nicht in wenigen Minuten zu bewältigen gewesen, und andere hatten über eine Stunde gewartet, bis ich die Sprechstunde fortsetzen konnte. Nun schien der Patient dies alles vergessen zu haben, obwohl die bleibende Schädigung der Hand (Abb. 2) ihn eigentlich immer daran erinnern könnte. War es Verdrängung, Gedankenlosigkeit, oder hatten die Zeitgeister Egomanie und Rücksichtslosigkeit zugeschlagen? Ich habe das Paar mit diesem Part ihrer Lebensgeschichte konfrontiert. Betroffenheit oder Einsicht konnte ich aber nicht erkennen. Vielleicht hat der Volksmund recht, wenn er Schillers Zeilen aus Wilhelm Tell so kolportiert:„Der brave Mann denkt an sich selbst zuerst!“ (...truncated)


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Dr. med. Fritz Meyer. Der brave Mann denkt an sich selbst - zuerst?, MMW - Fortschritte der Medizin, 2010, pp. 27-27, Volume 152, Issue 28-30, DOI: 10.1007/BF03366828