Saarbrücken, Montag, 12. Mai 2014
MMW Fortschritte der Medizin
„_Der Patient ng an, mich zu boxen und zu schlagen mit erheblicher Aggression“, berichtet ein Mediziner von seiner Erfahrung mit einem gewalttätigen Patienten. Der Kollege bringt sogar noch Verständnis auf, denn der Patient habe nichts dafürgekonnt, „sein Hb-Wert war unter 5 und das Gehirn war nicht mehr ausreichend mit Sauersto† versorgt“. Ein anderer Arzt berichtet von einem nächtlichen Hausbesuch im Notdienst - „nachts bei einem Drogenabhängigen, der auf Entzug war, mit aggressivem Schäferhund. Mir wurde ein Messer an den Hals gehalten, um ein Rezept zu bekommen. Der Hund wurde nicht weggesperrt.“ Es geht aber auch ohne Hund und Messer, wie ein dritter Kollege weiß: „Patient drohte mit erhobener Faust, wenn ich nicht sofort was verschreibe, schlage er mir auf die Fresse …“ Diese drei Fälle von Ärzten in bedrohlicher Not sind - neben vielen weiteren - vor zwei Jahren für eine Studie am Institut für Allgemeinmedizin der TU München protokolliert worden [1]. Eine Arbeitsgruppe um den Hausarzt Florian Vorderwülbecke hat dafür das derzeit wohl aktuellste Datenmaterial zu Aggression und Gewalt speziell gegen Allgemeinärzte und Praktiker in Deutschland zusammengetragen. Allein schon die Rücklaufquote von knapp 60% in einer Befragung ohne Belohnungsanreize zeigt, wie sehr das ¡ema den Ärztinnen und Ärzten auf den Nägeln brennen muss.
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Neun von zehn Hausärzten haben
Gewalterfahrung
Die Studie von Vorderwülbecke und
Kollegen belegt, dass 91% der
bundesweit mehr als 800 befragten Mediziner
während ihrer hausärztlichen Tätigkeit
mit aggressivem Verhalten konfrontiert
gewesen sind. Drei von vier Ärzten
haben solche Erfahrungen in den
zurückliegenden zwölf Monaten gemacht.
Meist war die Gewalt verbaler Natur.
Aber bei Weitem nicht immer:
Schwerwiegende Aggressionen und Gewalt
haben 23% während ihrer Lau¨ahn und
11% während des Jahres vor der
Befragung erlebt: Beißen, Schlagen, Treten,
Würgen, Bedrohungen und Angri†e mit
Gegenständen oder Wa†en, auch
Schusswa†en. Beileibe nicht alle
Vorfälle dieser Art gehen glimp©ich aus
(Kästen). Jeder hundertste Befragte
berichtete von sexuellem Missbrauch –
Grapschen von Brüsten und Genitalien,
sexueller Nötigung oder Vergewaltigung.
Als besonders riskant werden
Hausbesuche im Zuge des
Bereitscha®sdienstes empfunden: Zwei von drei Ärztinnen
und einer von drei
Ärzten fühlen sich hier nicht
sicher.
Deutschlands Ärzte
stehen mit solchen
Zahlen nicht allein. In einer
Erhebung der
Berufsgenossenscha® für
Gesundheitsdienst und Wohlfahrtsp©ege
vom vergangenen Jahr zeigt sich eine
erhebliche Belastung aller Beschä®igten in
ambulanten wie stationären
Gesundheitseinrichtungen [2]. Verbale Gewalt
ist laut der Ergebnisse in den
vorangegangenen zwölf Monaten 70–86% der
Befragten widerfahren, Ziel körperlicher
Übergri†e waren je nach Art der
Einrichtung 40–63%.
Anderswo ist es nicht besser
Ärzte in anderen Ländern klagen über
ähnliche Zustände. Für eine Studie in
Kanada wurden knapp 800
Allgemeinmediziner befragt, ob sie es während
ihrer Tätigkeit schon einmal mit Gewalt zu
tun bekommen hätten [3]. 98%
antworteten mit Ja. Schwere Aggressionen
hatten 39% erlebt, 18% wurden tätlich
angegri†en. Den Kollegen in Australien geht
es nicht besser, wo 60% der
Allgemeinärzte von Gewalterfahrungen in den
vorausgehenden zwölf Monaten berichten [4].
Gründe für Aggression gibt es viele,
häug sind Alkohol oder andere Drogen im
Spiel. Aber auch lange Wartezeiten
können aggressives Verhalten auslösen.
Vorderwülbecke zieht klare Schlüsse
aus den deutschen Befunden:
„Hausärztinnen und -ärzte in Deutschland sollten
sich darauf vorbereiten,
dass sie im Verlauf ihrer
Tätigkeit mit hoher
Wahrscheinlichkeit
Formen von Aggression
gegenüberstehen werden.“
Er fordert, das ¡ema in
der ärztlichen Aus- und
Weiterbildung zu implementieren und
Konzepte zum professionellen Umgang
mit Aggression und Gewalt zu
entwickeln.
„Die in weiten Teilen Deutschlands
übliche Praxis, Ärztinnen und Ärzte im
Bereitscha®sdienst alleine und ohne
jegliche Sicherheitsstruktur (zum Beispiel
Rückmeldesysteme nach erfolgtem
Besuch, Diensttelefone mit
Alarmfunktion) zu meist unbekannten Patienten zu
schicken, sollte aufgrund der
vorliegenden Ergebnisse kritisch hinterfragt
werden“, meint Vorderwülbecke weiter und
mahnt an, gerade mit Blick auf den
hohen Anteil von Ärztinnen im
hausärztlichen Nachwuchs Lösungen zu nden.
Eine Option sieht er darin, den
Medizinern im Bereitscha®sdienst einen Fahrer
zur Seite zu stellen, der in die Wohnung
des Patienten mitgehen kann.
„Ärzte und Ärztinnen
sollten im
Bereitscha sdienst
nicht allein fahren.“
(Florian Vorderwülbecke)
Früh am Vormittag wartet ein 34-jähriger Mann vor einer Arztpraxis auf den Arzt, bei dem
er in Behandlung ist. Der Patient ist Drogenkonsument, der 62-jährige
Allgemeinmediziner betreut ein Substitutionsprogramm.
Um 8:30 Uhr steigt der Arzt vor der Praxis aus seinem Auto. Sein Patient zieht eine
Waffe, schießt den Mediziner in den Kopf und verletzt ih (...truncated)