Migration: Was wir nicht wissen. Perspektiven auf Forschungslücken
Migration: Was wir nicht wissen. Perspektiven auf Forschungslücken
Christoph Reinprecht 0
Rossalina Latcheva 0
0 C. Reinprecht ( ) Institut für Soziologie, Universität Wien , Rooseveltplatz 2, 1090 Wien, Österreich
Auch für das 21. Jahrhundert heißt es: Wir leben in einem Jahrhundert der Migration. Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Thematik ist international hoch, ebenso die Nachfrage an sozialwissenschaftlicher, insbesondere soziologischer Expertise. Das Spektrum an Tagungen, Symposien und Publikationen ist breit aufgefächert, und dies gilt nicht nur in thematischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf die Forschungsansätze, die vielfach interdisziplinär ausgerichtet sind.1 Aufgabe und Ziel von Sonderheften ist es in der Regel, über den neuesten Forschungsstand eines Spezialforschungsbereichs und dessen relevante Weiterentwicklungen und Herausforderungen zu berichten. Das vorliegende Sonderheft der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie geht einen etwas anderen Weg. Die insgesamt neun Beiträge, die in diesem Heft versammelt sind, loten vor dem Hintergrund individueller Forschungserfahrung aus, was jene, die im Feld der migrationssoziologischen Forschung tätig sind, nicht wissen. Dass dieser Anspruch in einem einzelnen Heft nicht erschöpfend beantwortet werden kann, versteht sich von selbst: Zu ausdifferenziert ist die Forschungslandschaft, zu unübersichtlich das Feld der Wissensproduktion. Unsere Intention für dieses Heft ging aber von vorneherein über das
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Anliegen, in herkömmlicher Weise Forschungslücken aufzulisten, hinaus. Das
Bestreben war vielmehr, die durch die Migrationsforschung selbst generierten blinden
Flecken herauszuarbeiten, sei es als Folge spekulativer oder sogar
antiwissenschaftlicher Ansätze, konzeptioneller und methodologischer Unstimmigkeiten oder des
Forschungsprozesses selbst, der ja letztlich dafür verantwortlich ist, welche
Ausschnitte sozialer Realität(en) Konturen erlangen oder auch unsichtbar bleiben bzw.
gemacht werden.
2 Migrationsforschung in der Sackgasse?
Trotz ihrer Intensivierung und Ausdifferenzierung wird die Migrationssoziologie
vielfach als blass und lückenhaft wahrgenommen, und sieht sich in zunehmendem
Maße grundsätzlicher Kritik ausgesetzt. Ein Teil der Kritik richtet sich gegen den
Charakter der Migrationsforschung als „Ausländerforschung“ (Mecheril et al. 2013).
Zum einen übernehme diese fraglos die Perspektive der Aufnahmeländer, in der
Regel sei sie dann auch eher Integrations- als Migrationsforschung. Zum
anderen bliebe sie selbst dann, wenn es ihr um Fragen sozialer Ungleichheit oder um
die Untersuchung von Benachteiligung und Ausgrenzung geht, am dominierenden
Ordnungs- und Integrationsparadigma orientiert. Doch woraus resultiert diese
Problematik? Reflektiert sie das Erbe einer verengten nationalstaatlichen Konzeption?
Nämlich Migration unter dem Gesichtspunkt von unidirektionalen Wanderungen
(Aus- bzw. Einwanderung) zu begreifen, als bewusste Entscheidung für eine
dauerhafte Verlegung des Lebensmittelpunktes, die im Wesentlichen einer
ökonomischen Logik unterliegt (Wohlstandsgefälle, Einkommensdifferenzen,
Arbeitsplatzchancen) und zugleich den Nationalstaat in seinem Bedürfnis nach Kontrolle und
Steuerung der Bevölkerung herausfordert? Auch das grundsätzliche Dilemma
sozialwissenschaftlicher Forschung, die differenziert und „leise“ argumentiert, wo der
Aktualitätsbezug nach komplexitätsreduzierender Stellungnahme verlangt, könnte
hier wirksam sein. Diskursiv aufgeladene Themen wie Flucht und Asyl, die
Neuordnung der europäischen Grenzregime oder die Renaissance des (orientalistischen)
Rassismus markieren die gesellschaftspolitischen Spannungsfelder, in denen sich
die soziologische Migrationsforschung aktuell bewegt. Dieser Kontext fordert die
Soziologie besonders heraus, da die von ihr vorgebrachten Fragestellungen,
Diagnosen und Deutungen nicht unabhängig vom gesellschaftlichen und politischen
Diskurs formuliert werden. Die im politischen und Alltagsdiskurs angebotenen
Kategorien und Problemperspektiven („mit Migrationshintergrund“, „Integration“,
„zwischen den Stühlen“) durchdringen insofern auch die fachliche,
wissenschaftliche Debatte. Darüber hinaus wirken in der Geschichte der Disziplin verankerte
hegemoniale Perspektiven und Positionen, die im Kontext der Migrationsforschung
als erkenntnishemmend wahrgenommen werden: Dazu zählen der seit vielen
Jahren problematisierte „methodologische Nationalismus“, also die zentrale Stellung
des Nationalstaats als sozialwissenschaftliche Denk- und Analysekategorie, sowie
Eurozentrismus und Genderbias, d. h. die Standpunktbezogenheit der Forschung in
Bezug auf als europäisch und männlich codierte Normen und Vorstellungen, oder
der ökonomisch-funktionalistische Blickwinkel, der viele Forschungen nach wie vor
wirkmächtig definiert (Pull-Push-Modelle, Rational-Choice basierte Analysen von
Migrationsentscheidungen etc.). Diese Erbschaften werden aktuell intensiv
diskutiert. Dies gilt besonder (...truncated)